Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

yodokai
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Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 19789Beitrag yodokai »

Liebe Freunde,
Liebes Forum
Nachdem ich im persönlichen Forum von meinem Supergau beim Pretenden berichtet habe und der dabei beschriebenen Not, die ihr vielleicht so auch erlebt habt: nämlich dass der Wunsch des Pretenden einfach in dem Dilemma steckt, einerseits sich dabei echt und gut zu erleben und das Eigene damit zu erfahren, aber auf der anderen Seite man ständig dabei in der Angst lebt, von Bekannten erkannt zu werden und man ebenso dabei auch das ungute Gefühl hat, etwas vorzutäuschen, das eben in der Realität so nicht ist, damit andere täuscht und irgendwie etwas verlogenes oder verbotenes tut,
hat mir ein Mitglied in seiner gelassenen Antwort Mut gemacht, in dem er beschreibt, wie er offensiv damit umgeht und "die Fragen zum Grund des Rollens () gerne mit Sport, Rollentausch oder beispielsweise mit der Erweiterung der sozialen Kompetenz" beantwortet. Meist erntet er nach seiner Aussage dafür Staunen und Anerkennung - alle sollten das nach seiner Meinung einmal erleben, um achtsamer miteinander umzugehen. Mittlerweile stört das kaum mehr einen, wenn er im Rolli auftauche.
Das bringt mich auf eine Idee, die ich gerne mit Euch teilen möchte und die vielleicht helfen kann, das Pretenden auch für sich selbst und für andere zu legitimieren:
Wie wäre der Gedanke und die Vorstellung eines EU-geförderten, langzeit angelegten pädagogischen Sozialprojektes der Universität XY "Inversive Empathie durch Selbsterfahrung", bei der durch die Erstellung, Sammlung und Sichtung von Erfahrungsberichten erhoben werden soll, in wieweit durch die Selbsterfahrung einer Behinderung der Blick und der Umgang mit körperlich Behinderten beeinflußt und gefördert werden kann im Hinblick auf das Thema Inklusion. Dieses Projekt betrifft natürlich vor allem Erzieher/innen, Menschen in pädagogischen Sondereinrichtungen, und sozial-caritativen Berufen, aber auch Interessierte. Dabei besteht die Möglichkeit der Auswahl für eine Behinderung, die ja in ganz unterschiedlicher Weise aussehen kann und die sich der Projektteilnehmer für und über einen bestimmten Zeitraum aussucht.
Durch die Zusammenfassung der Erhebungen wird dann ein Spektagramm erstellt, ob und in wieweit Selbsterfahrung Einfluss auf den Umgang mit körperlich behinderten Menschen nimmt und in einem weiteren Verlauf erstellt werden soll, welche Maßnahmen und Ausbildungselemente für die Ausbildung in sozialen Berufen dahingehend daraufhin ergriffen werden können.
Das gibt´s zwar so noch nicht, aber findet Ihr eine solche Darstellung eingängig, dass damit einfach die Möglichkeit einer freieren und "ehrlicheren" Ausübung des Pretendens gegeben ist und das einfach einen gegenüber anderen aber auch sich selbst besser "legitimiert", so dass man nicht ständig das schlechte Gewissen haben muss, man täuscht anderen etwas vor und weiß nicht, wie man es den anderen sinnvoll erklären soll, die einen für total verrückt halten? Ja - und wer weiß - vielleicht gibt´s ja eine Uni, die mit EU Geldern ein solches Projekt einfach mal anpackt! Vielleicht findet Ihr das ja alles Quatsch, und ich weiß nicht, wie Ihr darüber denkt, aber ich würde mich da glatt gleich eintragen lassen! Und ich nehm´ den Gedanken mal mit, ob mir damit das Pretenden nicht wieder einfacher werden kann - vielleicht Euch auch...?!
Euer Yodokai
curio
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 19792Beitrag curio »

Ehrlicher? Oder bloss besser rationalisiert und begründet?
Uns geht es doch nicht um soziale Projekte. Wir finden es eben toll. Warum brauchst du eine Legitimation, kannst doch machen was du willst?
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BiidTom
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 19794Beitrag BiidTom »

Hallo Yodokai
Da muss ich courio recht geben. Du hast eben den Wunsch Rolli zu fahren, also erfülle ihn dir.

Ich bin 2x "heimlich" Rolli gefahren und das 2.x hat mich mein Chef gesehen von einer früheren Zeitarbeit. dies war supper peinlich. Von da an gestand ich einfach immer, dass ich Rollstuhl fahren liebe. Mit dieser Antwort lügst du nicht die andern an und dich auch nicht. Win - Win - Situation.

Mitlerweile muss ich (leider) rollifahren, so kann ich mein BIID nicht mehr mittels Rolli in eine kleinere Ecke drängen.
Der Wunsch bleibt, die Realität leider auch.

Grüsse Thomas
yodokai
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 19795Beitrag yodokai »

Lieber Curio, lieber Biid-Tom
Ich kann Eure Gradlinigkeit nur bewundern und Eure Gelassenheit. Ich glaube, ich bin da noch nicht so weit, das einfach so zu sagen. Sicher habt Ihr recht, dass mein Gedanke auch nur mit einer vorgeschützten Antwort reagiert und sicher auch nicht "ehrlich" ist. Aber die Idee eines Projektes hat mir einfach geholfen, mich vor anderen nicht verstecken zu müssen. Einfach zu sagen: ich mag das halt - irgendwie fällt mir das unheimlich schwer, weil ich die Reaktion anderer einfach fürchte:"der spinnt total". Ich weiß nicht ob Ihr das nachvollziehen könnt, aber ich glaub´ ich bin noch nicht ganz so weit wie Ihr! Aber ich arbeite dran...
Danke jedenfalls für Eure Rückmeldungen und Eure Einschätzungen
Yodokai
curio
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 19800Beitrag curio »

Bin weder gradlinig noch gelassen. Ich pretende nicht. Früher mal ... hat nichts gebracht ausser noch mehr dran denken. Bei anderen wirkt es anders.
Angst vor der Reaktion der anderen ist doch irgendwie echt ne Behinderung, denke ich, also für mich!
Habe ich leider sonst auch zu oft. Bringt nicht weiter.
Gruss
c.
LAK1210
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 19812Beitrag LAK1210 »

Hallo yodokai,

ich hatte damals beim Pretenden sehr ähnliche Gedanken. Gott sei Dank sind mir bei meinen vielen Pretender-Ausflügen in der Kölner Innenstadt, in Kerpen oder Bergheim niemals Bekannte begegnet. Eine Ausrede dieser Art hätte ich aber wahrscheinlich benutzt, um den wahren Grund meiner vorgetäuschten Einbeinigkeit zu verbergen. Ob mir das gelungen wäre, ohne zu stottern, rot anzulaufen oder völlig unglaubwürdig zu wirken, weiß ich allerdings nicht...

Liebe Grüße Dein LAK
Biidman
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 19847Beitrag Biidman »

Wenn man von jemanden "erwischt" wird den man über zwei Jahre nicht gesehen hat und der dann bemerkt das man "amputiert" ist, war für mich eher sehr befreiend.
Ich stand da nun mit meiner Bein-Prothese und sagte nur, als sie mich fragte wie es mir nun geht, super kann nicht klagen!
Das erste mal im Leben sah mich also ein mir bekannter Mensch, nun als amputierten mit Beinprothese!
Ich fühle mich wirklich sehr wohl dabei!

Mit freundlichen Grüßen
Biidman
Fachlich heißt es Amputation, ich nenne es Erlösung!
FräuleinRatlos
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 21390Beitrag FräuleinRatlos »

Ich stecke da schon in größeren Schwierigkeiten.
1.Unsere Stadt ist klein,
mich kennen zuviele,da sind Tratschtanten bei,öffentlich pretenden könnt ich hier erst recht nicht,Die Kehrseite von der Medaille ist,wenn ich durch n Unfall(natürlich unvrrschuldet)In die Lage kame,dann weiß ich jetzt schon,daß ich unter einer Welle des Bedauerns erdrückt werden würde,was ich auch nicht brauchen kann.Ich brauch Leute,die mich herausfordern.
2.Als DAK zu pretenden,was ich eigentlich will,geht seit Jahren nicht mehr,
weil mir die Arthrose in den Knien das versaut hat.
Alles irgendwie tricky.Das kommt einer Folter gleich.
Das einfachste wäre,im meinem Fall die Stelle im Nervensystem auszuschalten,die für s Schmerzempfinden zuständig ist.Klar,ist gefährlich,weil Schmerzen der Alarmknopf sind.
Und es gibt Menschen,bei denen dieser Knopf nicht funktioniert.
Es wird einfach kein Alarm ausgelöst.Aber das ist eben unverantwortlich,
deswegen scheidet diese Möglichkeit auch aus.
Aber es tut gut,offen darüber reden zu können....
weniger ist mehr
Sommer2018
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 21395Beitrag Sommer2018 »

Sehr interessanter Chat hier. Bin Angehörige eines biid ler und wir machen es auch heimlich. Ihm nimmt es den Druck auf jeden Fall und er fühlt sich dann besser. Er sagt er gehört einfach da rein. Ich bin froh hier im chat mit jemanden mich austauschen zu können da man mit niemand drüber reden kann. Stößt eh nur auf Unverständnis. Was habt ihr da für Erfahrungen? Gibt es denn jemand hier der nun biid los ist weil durch was auch immer passiert ist es nun so ist und das Bein ist weg oder lähmung ist nun o.ä. eine Studie hat wohl fest gestellt das dann wenn man dem Wunsch nachgeht das Leiden vorbei ist. Ist das so?
yodokai
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Re: Ein Gedanke zur inneren Legitimation des Pretenden

Beitrag: # 21399Beitrag yodokai »

Hallo, Sommer2018! Also zunächst einmal finde ich es ganz toll, dass Du Deinen Angehörigen akzeptierst und ihn auch begleitest! Mein Gott, wenn ich so jemanden hätte!!! Ich glaube, dass es eine riesige Leistung ist, etwas, das man nicht versteht, zu akzeptieren oder zu tolerieren und wenn man dann den anderen sogar darin unterstützt, ist das ein super Zug! Ich bin mit einigen wenigen in Kontakt, die vor ihrem Unfall Biidler waren und alle (es sind drei) sagen, dass es auf einer Seite eine irre Erleichterung war, aber andererseits eine Herausforderung, nun ständig mit der Behinderung zu leben. Es ist ja auch ein irre Zufall, dass man gerade durch einen Unfall oder eine Krankheit die Diagnose gesagt bekommt, die man sich so sehr gewünscht hat. Normalerweise sucht man sich eine Behinderung ja nicht aus. Wenn´s dann so wird, scheint das ja wie ein Wink des Himmels. Aber ich glaube die reale Konsequenz realisiert man erst später und einfach ist das dann sicher nicht. Aber alle drei bescheinigten mir einhellig, dass der Rollstuhl jetzt endlich "zu ihnen" gehöre und sie wirklich mit sich im Reinen sind, was ihre Behinderung betrifft. Das Leben stellt sich wahrscheinlich total um und es gibt viele Hindernisse, aber das Innere, das Gefühl endlich "echt" zu sein, das ist, behaupte ich mal, die größte Befreiung, wenn das BIID in die reale Wirklichkeit umgesetzt wird...
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