PhD-Arbeit zu BIID

LAK1210
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Re: PhD-Arbeit zu BIID

Beitrag: # 17320Beitrag LAK1210 »

Hallo PhD Research,

ich möchte einige der Fragen aus Ihrem vorletztem Posting beantworten:

1. Mein BIID richtet sich sehr stark darauf aus, dass ich als Behinderter (fast) alles machen kann und (fast) alles leisten kann, was ein Gesunder auch schafft. Jetzt, nachdem ich Einbeiner bin, hat sich diese Hoffnung als sehr richtig herausgestellt. Auf Hilfe/Mitleid/Betroffenheit anderer kann ich sehr gerne verzichten, Anerkennung und Bewunderung sind mir dagegen durchaus wichtig. Obwohl ich mit Prothese fast fehlerfrei laufen kann, bin ich vor allem in der Öffentlichkeit gerne einbeinig mit abgenähtem Hosenbein und zwei Krücken unterwegs.

3. Diese Menschen würde ich ganz klar nicht als Pretender bezeichnen. Das sind eher Devotees, die sich anderen Behinderten zuwenden und diese sexuell attraktiv finden. Pretender sind Meschen (häufig BIID-Betroffene), die in der Öffentlichkeit (oder zu Hause) eine Behinderung vortäuschen (z.B. im Rolli oder mit zwei Krücken oder Orthesen) und als "quasi-Behinderte" ihr Leben leben, und sei es nur für zwei Stunden pro Woche.

4a. Prothesen haben mich nur ganz am Rande interessiert, als Hilfsmittel, um eben nicht nur auf zwei Krücken unterwegs sein zu müssen. Und natürlich, um die Erwartung meiner Umwelt zu erfüllen, dass man als Beinamputierter natürlich eine Prothese tragen müsse.

4b. Prothesen sind für mich, wie oben geschrieben, reines Mittel zum Zweck. Ich kenne aber auch BIIDler, die sich eine Einbeinigkeit nur wünschen, um dann eine Prothese, denen sie auch emotional sehr viel abgewinnen können, tragen zu können. Häufig wird sie dann sehr sichtbar (z.B. kurze Hosen) getragen. Ich mache das im Sommer übrigens auch sehr gerne.
Auch bei der Wahl der Prothese gibt es kein einheitliches Bild. Einige sind hochtechnischen Produkten (C-Leg, Rheo-Knee, Genium) zugetan, andere wiederum wollen ausschließlich eine "altmodische" Prothese mit mechanischem Kniegelenk und viel Holz und Leder tragen.

5. Wenn ich BIID-Blindheit/starke Fehlsichtigkeit oder Taubheit hätte, würde ich dafür sorgen, dass meine starke Brille oder mein Hörgerät deutlich erkennbar ist.

Liebe Grüße vom LAK1210
-phorus-
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Re: PhD-Arbeit zu BIID

Beitrag: # 17322Beitrag -phorus- »

Guten Abend!

(1.) Ich erinnere mich, dass alles, was nur im Entferntesten mit dem Thema zu tun hatte, von mir in Zeitungen, Zeitschriften, Buchläden, Bibliotheken etc. geduldig gesucht und gefunden und gelesen und studiert wurde. Die Phantasie machte dabei mit: was NICHT da stand, stellte ich mir zuweilen vor, DASS es da stünde – die Vorstellung einer Normalität. Auch hatte ich tatsächlich mal einen schreibenden Chirurgen, der mit Amputationen zu tun hatte, nach Lektüre seines Buches vorsichtig befragt: ob es das schon mal gegeben habe, dass ... aus welchen Gründen auch immer ... Natürlich hatte der nie etwas davon gehört, antwortete aber auf meine brieflich geäußerten Fragen ganz geduldig.

Die entsprechenden Bücher, die „sexuelle Deviationen“ behandelten, gaben wenig her. Eine heiße Spur war der Begriff „Münchhausen-Syndrom“, was sich dann bei näherem Hinsehen als etwas anderes als das Gesuchte herausstellte. Auch über das Stichwort „Fetischismus“ suchte ich mich dem Thema zu nähern. SM schien auch in diese Richtung denkbar. Immerhin stieß ich dann irgendwann auf eine Erwähnung von besagtem Money-Artikel. Herzklopfen, aber hallo! Weiter kam ich dann auch nicht, der Artikel war nicht so ohne weiteres für mich greifbar.

Sicher ist es hier vielen so gegangen: kaum hatten sie dann Internet und eine stille Sekunde, so wurde ein ganz bestimmtes Suchwort mit „A“ eingegeben. Das war bei mir 1997 der Fall, und erstaunlich bald wurde ich fündig mit meinem 56k-Modem. Herzklopfen, aber megahallo! Noch war es ein weiter Weg bis zu einer ersten Kontaktaufnahme irgendwohin. Über die Amelo-Welt kam ich dann schließlich auf unser Thema.


(2.) Und ja, das Bild, was sich damals im Netz bot, war bunt und die verschiedenen Interessensgruppen nicht so klar voneinander geschieden. Nicht nur die Suchenden, sondern auch die Betreiber von Sites oder Foren oder Groups mussten sich erst einmal orientieren. Zunächst war alles „durcheinander“, alles willkommen, später dann differenziert, aber (noch) nicht getrennt. Spezialisierungen bedeuteten noch keine Abgrenzung.

Manchmal bedaure ich die heutigen Schubladen. So sehr Ordnung sein muss, Ordnung ist nur das halbe Leben. Sie kann sinnvoll sein und Selbstzweck. Sobald es eine Art Ziel gibt, unausgesprochen oder bewusst, wird diesem zugestrebt. Das ist sicher nötig, verengt aber naturgemäß den Fokus. Ich finde, dass das Reden über unser Thema und Angrenzendes dadurch zuweilen sogar schwieriger geworden ist. Man liest einen Begriff, den Anfang einer Geschichte, und meint gleich, Bescheid zu wissen. Ich habe den Eindruck, dass die gegenseitige Toleranz gesunken ist und überhaupt die genaue Kenntnis und das Interesse, die Neugier aneinander. Aber das ist ja allem Anschein nach ein aktuelles gesamtgesellschaftliches Phänomen. Manchmal denke ich, dass gerade „wir“ es durchbrechen könnten und sollten eingedenk unserer Besonderheit. Sie müsste doch den Blick für andere Besonderheiten öffnen bis hin zu der Erkenntnis, dass ein jeder Mensch besonders ist und ein Recht darauf hat – bei gleichzeitiger Normalität. Sehr richtig und sehr wichtig, was hier schon zu Inklusion zu lesen war!

Über ein Forum, das „gemischt“ war, gelangte ich übrigens selbst einst in die „Szene“: ein Treffen mit Amelos, unfreiwillig Amputierten, einem Caster, einer BIIdlerin, mehr oder weniger „neutralen“ Angehörigen ... und das alles in einem Regenbogen-Club. Die Stimmung war super. Ich werde das nie vergessen!

Zur Geschichtsschreibung: das Unbeständige des Netzes hat vieles am heutigen Stand schwer nachvollziehbar gemacht. Groups und Foren sind gekommen, haben eine Blüte und einen Niedergang erlebt und sind schließlich untergegangen, und vieles an wertvollen Gedanken und Erfahrungen, aber auch (Richtungs-)Auseinandersetzungen ist damit wieder verloren gegangen. Es ist schade, dass so wenig aus der „Pionierzeit“ übriggeblieben ist. Ein „Archiv“ – ich sage nur: Hirschfeld – wäre eine tolle Sache (gewesen). Aber wer soll das machen? Sicher trägt die Geschwindigkeit des Netzes dazu bei, dass Erkenntnisse bald neu gewonnen werden. Aber für die Geschichtsschreibung fehlt dann der Aspekt der „alten Brille“. Warum wurde wann was gedacht und geschrieben? Irrtümer gibt es auch heute. Deren Ursachen werden schwer auszumachen sein, wenn wir den Weg nur mühsam zurückverfolgen können.

Ob nun die Abgrenzung eher da war oder die Bezeichnungen – nach meinem Eindruck ging das einher. Um Bezeichnungen wurde oft gerungen. Im Falle unserer Gruppe ist bemerkenswert, dass die Meinung der Betroffenen von den Forschenden zur Kenntnis genommen wird, d.h. es wird nicht nur über sondern mit uns gesprochen. Objekte werden zu handlungsfähigen Personen.


(3.) Ich kannte bis 1989 keinerlei Quellen, danach begann erst allmählich meine Suche. Wie schon erwähnt, lief mir dann irgendwann der Hinweis zu J.W. Money über den Weg und der Begriff Apotemnophilie.


Wenn es gelänge, nach Zeiten einer notwendigen Auffächerung der Themen um die individuellen Empfindungen mit und gegenüber individueller Körperbauten und –bildern herum wieder eine Möglichkeit zu finden, eine Metaebene bzw. einen vollkommeneren Überblick zu erreichen, fände ich das ganz hilfreich und wunderbar! Ich hoffe sehr, dass Arbeiten, wie diese hier begonnene, dazu beitragen. Ich bin froh, dass „Geister“ außerhalb „unserer“ Welt (in der auch unsere sehr verehrten Forscherinnen und Forscher stecken) sich dafür interessieren. Es besteht durchaus die Chance, so den Wald bei den Bäumen entdecken zu können.

Viele Grüße, Phorus.
Bracemarc
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Re: PhD-Arbeit zu BIID

Beitrag: # 17324Beitrag Bracemarc »

1. Wie haben sich Betroffene vor dem Internet gefunden, ausgetauscht und herausgefunden, dass sie nicht alleine sind?

Ich denke, oftmals haben die Betroffenen nicht einmal nach Ihresgleichen gesucht. Mir ging es zumindest so. Bis Anfang der1990iger Jahre war ich noch felsenfest davon überzeugt, dass das, was ich da habe, eine "krude Macke" ist, die ich allein für mich gepachtet habe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch andere Menschen gibt, die ähnlich oder gleich empfinden, zumal eine Behinderung zu wollen, nach meinem damaligen Gusto schon ganz schön neben der Spur lag. Selbst habe ich in verschiedenen Anzeigenblättern eher nach Bekanntschaftsanzeigen gesucht, die auf Behinderte hin deuteten und nach Fachbüchern von Orthopädietechnik Ausschau gehalten, um etwas mehr zu erfahren über diese Thematik. Ich glaube auch nicht, dass sich Betroffene gegenseitig gesucht und gefunden haben. Über welche öffentlich brauchbaren Begriffe oder Zeichen hätte das auch laufen sollen? Sicher wird es ein paar Hände voll Zufallsbekanntschaften gegeben haben, mehr sicher nicht. Das bestätigt sich auch hier im Forum, wenn die "Neuankömmlinge" oftmals als Erstes froh sind, nicht mehr allein zu sein, nicht mehr als "verrückt" abgestempelt zu werden und froh sind, dass es doch tatsächlich eine wissenschaftliche Kategorie für uns gibt.
Sicher war es zu Zeiten vor dem Internet eine echte Rarität, dass einmal jemand mit Xenomelie oä. in einer Psychologischen Praxis aufgetaucht ist. In dieser Zeit spielte die gesellschaftliche Stigmatisierung und Tabuisierung derartiger Patienten noch eine vorherrschende Rolle. Es gehörte sicher eine ganze Portion Mut und Leidensdruck dazu, wenn sich die Betroffenen einer Behandlung stellen mussten - sicher oft nicht ganz freiwillig. Die Dunkelziffer wird bestimmt recht hoch gewesen sein. Und sicher war nicht jeder "Unfall" auch tatsächlich ein solcher...
Das Zeitalter des Internets hat hier bestimmt einen wesentlichen Beitrag zu gesellschaftlichen Aufklärung mit Entstigmatisierung und Enttabuisierung solcher Leidensgeschichten, wie der unsrigen beigetragen. Wo es früher schwer war, für Außenstehende Informationen zu bekommen, sind diese - echtes Interesse vorausgesetzt - heute nur einen "Mausklick" entfernt und meist in recht guter Qualität zu bekommen.

2. Haben sich daher die Netzwerke von BIIDlern oder wannabes früher viel eher mit denen von devotees oder Amelotisten überschnitten? Und falls, hatten die unterschiedliche Bezeichnung und Unterscheidungen – bspw. durch die Medizin – Einfluss darauf, dass man sich voneinander abgrenzte?

Sicher ist das so. Als ich Mitte der 1990iger Jahre erstmals Internet bekam, gab es die G.....-krake noch nicht und man musste viele Suchmaschinen und Metasuchmaschinen bemühen. Aber was sollte man als Suchbegriff eingeben? Amelo, Devotee, Wannabe, Pretender, Xenomelie o.ä. waren Begriffe die ich nicht kannte. Also kam am ehesten "Amputierter" oder die engl. Variante "Amputee" u.a. zum Einsatz. Es dauerte allerdings nicht wirklich lange, bis ich die ersten der obigen Begriffsschnipsel erhaschte und damit in eine recht bunte Welt ähnlich Gesinnter eintauchen konnte. Schnell kamen dann noch die üblichen Abkürzungen und "Fachbegriffe" hinzu, die man dann als ordentlicher Mensch in sein Nutzerprofil des Providers eintragen konnte, damit man auch gefunden wird. Die Nutzerprofile hatten damals sicher noch eine wesentlich größere Bedeutung als heute.
Diese Plattformen zu haben, war schon mal recht gut, traf aber meine Gefühlswelt nicht wirklich. Erst seit es die beiden Vorgängerforen gab, fand ich mich auch wieder und konnte gedanklich mitgehen. In dieser Zeit habe ich mehrere Menschen kennen gelernt, mit denen ich teils in sehr engem Kontakt stand. Es gab schon Abgrenzungen der Gruppen untereinander, aber nicht gar so zugespitzt, wie heute. Menschlich gesehen, sind diese - aus Gründen fehlender Differenzierung - dann oft und gern zum "Haifischbecken" geworden. Der Prozess dieser Differenzierung ist auch heute noch nicht abgeschlossen.
Die tatsächliche Abgrenzung und Ausdifferenzierung kam erst mit der Einführung des BIID-Begriffes zustande. Hierdurch wurde alles wissenschaftlicher und ernsthafter, da es ein klar definierbares gemeinsames Ziel gibt. Besonders wichtig fand ich den Punkt, ab dem von mehreren Gruppen in der Welt ernsthaft med. Forschungen betrieben wurde, es Studien und Bemühungen gibt, um uns helfen zu können und BIID damit aus der Schmuddelecke etwas heraus kam.

3. Kennen Sie zufälligerweise Quellen von oder zu BIID-Betroffenen, bevor es das Internet und die Bezeichnung BIID gab, bspw. in Literatur, Zeitschriften oder ähnlichem?

Leider nein. Hierzu sind sicher unsere Psychologen und Professoren die geeigneteren Ansprechpartner. Im Forschungsthread sind sicher auch die entsprechenden Kontaktdaten zu finden.

LG Bracemarc
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Registriert: Mo 29. Feb 2016, 11:37

Re: PhD-Arbeit zu BIID

Beitrag: # 17346Beitrag PhDResearch »

Liebe alle,

ihre Beiträge sind wirklich sehr interessant und hilfreich für meine Arbeit. Danke! Es ist gut bestätigt zu wissen, wie divers und unterschiedlich die jeweiligen Phänomenologien und Manifestation innerhalb des BIID-Spektrums sind. Und gerade was die Abgrenzung oder Spezifizierung von unterschiedlichen Gruppen angeht, kann ich oft nur spekulieren oder bin auf die öffentlich zugänglichen Seiten und Blogs angewiesen, die noch online sind. So entstehen natürlich oft auch falsche Eindrücke.

Daher würde ich gerne noch mal genauer nachfragen:

1. Warum meinen Sie, lieber phorus, dass die gegenseitige Toleranz gesunken ist? Und könnten Sie, lieber Bracemarc, auf die von Ihnen erwähnten Nutzerprofile und deren Bedeutung noch mal etwas genauer eingehen?


Dann würden mich einige rein technische Aspekte hierzu interessieren: Bis Blogs durch beispielsweise wordpress oder ähnliche Anwendungen zu einfachen, nutzerfreundlichen Tools wurden, für die man keine große html-Kenntisse brauchte, gab es ja zahlreiche, unterschiedliche Foren-Systeme. Also Bulletin Boards, yahoo-Groups usw.

2. Wissen Sie noch, was das für Foren oder Seiten waren und wie sie hießen? Und was zeichnete sie aus, bzw. waren die Vor- und Nachteile dieser Systeme für BIID-Betroffene?


3. Anschließend würde ich gerne wissen, welchen Einfluss das web 2.0 auf Sie hatte? Da Sie wahrscheinlich anfangs sich, ihr Begehren und Körperempfinden im Austausch erstmal nur durch Text beschreiben konnten, frage ich mich, welchen Einfluss die Möglichkeit mit und über Bilder zu kommunizieren auf Sie gehabt hat? Wenn man bei youtube bspw. nach BIID sucht, wird es sehr diffus. Wenn man jedoch nach „Pretender“ sucht, findet man zahlreiche Videos, bei denen sich eine bestimmte Bildsprache und Praxis durchsetzt, die wie „herkömmliche Youtube-Videos“ auch, nicht nur auf eine Selbstinszenierung, sondern auch Kommunikation abzielen. Welche Rolle oder Bedeutung spielen solche Videos für Sie? (Ich lasse diese Frage mal bewusst so offen stehen.)
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