Medikamentöse Behandlung

Antworten
Benutzeravatar
Humpelstilzchen
Beiträge: 309
Registriert: Mo 6. Dez 2010, 00:38
Wohnort: DE

Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 57Beitrag Humpelstilzchen »

Ich will hier mal einen Einwurf machen zum Thema medikamentöse Behandlung. Für wen kommt sie in Frage, mit welchen Mitteln und wer würde das in Betracht ziehen.

Mal zu mir selbst, ich habe mal Fluspi bekommen, 1ml wöchentlich. Das ist ein Neuroleptikum, das gespritzt wird. Ich habe die Einnahme selbst angeregt, also nicht ärztlicherseits vorgeschlagen bekommen. Neuroleptika werden bei vielen Erkrankungen genommen, von Angststörungen, bis Zwangserkrankungen und Schizophrenie. Dieser Medikamententypus wirkt dämpfend, er dämpft Gefühle, er dämpft damit aber auch Zwangsgedanken oder Wahnvorstellungen. Und wenn jemand *sehr* an BIID leidet, kann das die Ausmaße eines Zwanges annehmen, der einen förmlich umklammert, lähmt und einen richtig krank machen kann. Mir selbst hat Fluspi den Kopf freigemacht.

Wie steht ihr dazu? Wird euer Leben von BIID aufgefressen? Ich habe Prof. Kasten bereits angemailt, um mit ihm über die Behandlung mit Neuroleptika zu diskutieren. Es wäre schön, wenn er sich hier vielleicht sogar selbst zu Worte meldet.

Wenn ich Kopfschmerzen habe, nehme ich ja auch Aspirin und setze mich nicht in die Ecke und erdulde das Kopfweh. Warum nicht bei BIID auch etwas nehmen? Aber, wie gesagt, ich spreche hier Menschen an, die von BIID regelrecht aufgefressen werden. Ich bin der Meinung, bei einem *sehr* starken BIID kommt man mit Therapie nicht weiter. Wer stark an BIID leidet sollte nicht warten, bis sein Leben den Bach runtergeht. Medikamente heilen nicht das Problem BIID, aber ein Diabetiker muss ja auch lebenslang Insulin spritzen, um leben zu können. Ich bin unabhängig von Medikamenten meinen Weg der *hüstel* Selbstverwirklichung gegangen, aber man muss es sich ja nicht selbst schwerer machen. Oder?
Always be yourself. Those who matter won't mind, those who mind, don't matter!
Phil

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 60Beitrag Phil »

Hi Humpelstilzchen,

auch hier muss wohl jeder für sich den richtigen Weg finden. Grundsätzlich würde ich sagen, dass Medikamente nur in Notlagen und vorübergehend richtig sind, wenn es gar nicht anders geht.

Ich nehme bei Kopfschmerzen kein Aspirin, sondern versuche, mit den Kopfschmerzen umzugehen und trotzdem weiterzumachen. Vielleicht lege ich mich hin, trinke was, gehe spazieren. Nachdem ich seit Jahren auch ein bisschen meditiere und Körperarbeit gemacht habe, habe ich sogar einen Weg gefunden (eher zufällig), mit Schmerzen anders umzugehen, indem ich mich auf sie einlasse. Schwer zu beschreiben.

Wenn BIID schlimm wird, hat wohl auch jeder so seine "Methoden", das durchzustehen. Wie schon oft gesagt, bei mir sind gut:

- unter Leute gehen, unter liebe Menschen
- Körperarbeit wie Qi Gong oder Feldenkrais
- Bewegung an der frischen Luft, am Tageslicht, in der schönen Natur
- gute Bücher lesen (Romane) mit Gefühl
- gute Filme mit Gefühl ansehen, möglichst im Kino
- mit jemandem über BIID reden
- meditieren (da gibt es so unglaublich viele Ansätze)

Auch "Pretenden" (bei mir also: Rollifahren) oder einfach Geschichten aufschreiben, in denen ich meine Beinstümpfe schon habe, hat mir oft geholfen, allerdings nur vorübergehend als Ventil.

Vor Medikamenten bin ich sogar schon gewarnt worden, und dann gab es folgenden Fall: Eine Person mit BIID hat gegen die (unter anderem von BIID kommenden) Depressionen ein Antidepressivum bekommen. Auf dieses Mittel hin hat die Person Selbstmordgedanken bekommen. Als sie der Klinik davon erzählte, wurde sie gegen ihren Willen dort festgehalten und in die geschlossene Abteilung gesteckt. Als sie sich wehrte, wurde sie sogar festgeschnallt. Manche Medikamente haben eher ungünstige Nebenwirkungen. Was hat man davon, wenn man weniger depressiv ist, aber dafür ständig an Selbsttötung denkt und dann wochenlang eingelocht wird?

Es kommt auch hier vermutlich auf den Arzt und die Beziehung an, auf das Medikament, die Dosis und die ganz individuelle Reaktion.

Mein Leben wird von BIID nicht aufgefressen, aber ziemlich dominiert. Aber vielleicht ist das nur eine Denkweise. BIID "ist" ja nicht "etwas", sondern nur eine Beschreibung für meine Gefühle, Gedanken und Sehnsucht. BIID bin sozusagen ich; es ist ein Teil von mir selber. Damit kann BIID mich nicht auffressen.

Oder lässt man sich von Liebe auffressen, wenn man ganz verliebt und sehnsüchtig nach dem/der Geliebten ist? Schräger Vergleich, ich weiß...

Ich denke, dass man etwas braucht, was die Kräfte stärkt, die einem ermöglichen, mit BIID zu leben. Resilienz nennt man das jetzt. Dazu kann Psychotherapie helfen. Auch gegen die Depressionen, die man wegen BIID bekommen kann, gibt es Wege, und das müssen nicht Medikamente sein, wenn man rechtzeitig was unternimmt und eine/n gute/n Therapeuten/in findet oder eine gute psychosomatische Klinik.

Nach meiner Erfahrung ist es selten "nur" BIID, woran wir leiden, sondern oft kommt noch etwas anderes dazu, und unsere Kräfte werden schon für BIID aufgebraucht. Und oft ist es nicht BIID selbst, sondern das Geheimnis, die Scham, das Gefühl der Ausweglosigkeit, die Selbstzweifel und all das - daran lässt sich auch ein bisschen arbeiten. Wichtig ist, dass man sich selber mitsamt seinem BIID annimmt.

Und dann noch eins: Für mich ist es ein Ventil, wenn ich mich bei Wissenschaftlern und hier im Forum einsetze, dass wir mehr über BIID erfahren, Therapien ausprobieren und auch die Möglichkeit der chirurgischen Lösung ernsthaft diskutieren.

Das mal als ein paar Gedanken zum Thema, leicht ausufernd... :-)
Lieben Gruss

Phil
Benutzeravatar
Humpelstilzchen
Beiträge: 309
Registriert: Mo 6. Dez 2010, 00:38
Wohnort: DE

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 79Beitrag Humpelstilzchen »

Hey Phil,

okay, du hast ja einige Strategien, um BIID im Zaun zu halten. Aber wie empfindest du die Aussicht, vielleicht dein Leben lang gegen BIID arbeiten zu müssen? Es ist ein lebenslanger Teil von uns allen, so oder so, aber deine Strategien dienen ja am Ende auch der Unterdrückung deiner Sehnsucht und der Ablenkung, oder etwa nicht?

lG
Always be yourself. Those who matter won't mind, those who mind, don't matter!
Phil

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 83Beitrag Phil »

Lieber Humpel,

Du deutest auf den Kern der Sache.

Das merke ich immer mehr: Ich kämpfe sozusagen ein Leben lang gegen mich selber, unterdrücke, schiebe es auf die Seite, gehe darüber hinweg, versuche mich (mehr oder weniger krampfhaft) auf andere Dinge und auf Menschen zu konzentrieren, bin praktisch fast ständig an mir selber therapeutisch tätig, wenn man das so sagen kann...

Wie lang soll ich das noch machen, wie lange halte ich das durch, und warum eigentlich?

Das Warum ist zur Zeit, dass ich zu feige bin, keinen halbwegs sicheren Weg sehe und einige der doch krassen Konsequenzen einer doppelten Oberschenkelamputation sehr scheue - aber gleichzeitig ersehne ich sie doch!

Du kennst das ja alles nur zu gut...


Mit den Medikamenten ist es ja ähnlich, oder? Auch nur vorübergehende Betäubung, nicht mal wirklich Linderung.

Ich hoffe immer noch auf einen Weg, auf dem ich BIID wirklich (und wenn nur vorübergehend und zeitweise) überwinde und nicht bloß unterdrücke. Manchmal habe ich ja so Stunden und Tage...

Vor Monaten hatte ich ein Gespräch mit einem Transmann. Der sagte, dass die Zeiten vor der Operation, wo er dachte, ihm gehe es richtig gut, aus Sicht nach der Operation ziemlich "low level" gewesen seien.

Wie erlebst Du das?

Ratlos wie immer, lieben Gruss
Phil

P.S.: Ich muss immer wieder daran denken, wie Du in Frankfurt gesagt hast, worum es wirklich geht. Fand und finde ich total gut und wichtig.
Benutzeravatar
Humpelstilzchen
Beiträge: 309
Registriert: Mo 6. Dez 2010, 00:38
Wohnort: DE

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 89Beitrag Humpelstilzchen »

Huhu,
phil hat geschrieben: Vor Monaten hatte ich ein Gespräch mit einem Transmann. Der sagte, dass die Zeiten vor der Operation, wo er dachte, ihm gehe es richtig gut, aus Sicht nach der Operation ziemlich "low level" gewesen seien.
Verstehe ich nicht ganz, wie hat er das gemeint, die Zeit war "low level" vorher?
phil hat geschrieben:P.S.: Ich muss immer wieder daran denken, wie Du in Frankfurt gesagt hast, worum es wirklich geht. Fand und finde ich total gut und wichtig.
Ich hab mal was wichtiges gesagt? Weiß ich gar nicht mehr :D Was hab ich denn da gesagt zum Kern der Sache?
phil hat geschrieben:Wie erlebst Du das?
Das deckt sich sehr weit mit deinem Erleben. Du hast das ja in der Doku schon erkannt, mit einer OP tauschst du eine psychische Behinderung gegen eine physische Behinderung ein. Und eigentlich ist die kleinere Behinderung diejenige, mit der man am besten leben kann. Und die frage, ob das nun die psychische oder physische ist, das ist dann eben individuell. Im Gegensatz zu dir konnte ich mich nie richtig ablenken oder mit irgendeiner Strategie diese Gefühle eindämmen, darum hab ich dann so konsequent auf die physische Behinderung hin gearbeitet. Aber ich muss sagen, diese Ambivalenz bleibt aber für immer: einige Sachen gehen nicht mehr, die man gerne gemacht hat. Aber ich habe für mich dadurch auch die Frage beantwortet, mit welchem Handicap ich lieber lebe, dem physischen oder dem psychischen. So oder so, das beschäftigt einen immer das Leben lang. Die Zeit wird zeigen, wie du damit umgehst. Schau dir doch Dan an oder Christopher, die haben eine OP so lange wie möglich nach hinten verschoben und haben im reifen Alter eine Entscheidung getroffen, so kann man das auch machen.

lG
Always be yourself. Those who matter won't mind, those who mind, don't matter!
Phil

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 95Beitrag Phil »

Hi Humpel,

der Transmann meinte das so: Im Rückblick erschienen ihm die Zeiten als ziemlich mies (low level, niedriges Niveau), in denen er dachte, es gehe ihm gut. Weil er erst nach der Operation merkte, wie gut das Leben wirklich sein kann.

Du hast der Frau Müller in Frankfurt gesagt, wie das Leiden wirklich aussieht und dass es nicht um abstraktes Geschwätz geht. Das fand ich wichtig, auch wenn manch es als "unsachlich" empfunden haben. Aber was an BIID ist schon "sachlich", und wenn wir unsere Gefühle nicht äußern, ist das dann ehrlich und echt?

Ja, Chris und Dan haben es lang vor sich hergeschoben, aber beide sagen, das einzige, was sie bereuen, ist, dass sie es nicht schon mit 18 gemacht haben.

Eltern tot, Kinder aus dem Haus, nahe am Ruhestand oder schon drin, da gibt's noch mehr Fälle. Aber alle einseitige Beinamp... Doppelt ist halt noch krasser.

Ja, wir haben nur die Wahl zwischen einer seelischen und einer körperlichen Behinderung. Was ist wichtiger, Seele oder Körper?

Wie stark wirkt sich die körperliche Behinderung auf die Seele aus?

Lieben Gruss
Phil
mausi_kat
Beiträge: 75
Registriert: Mo 6. Dez 2010, 00:28
Wohnort: Allgäu
Kontaktdaten:

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 108Beitrag mausi_kat »

Hallo Phil
Ich wusste bis vor ein paar Tagen nichts von Biid ich weis nur von meinem eigenem Ich
meine Gedanken und ich muss sagen ich mach auch wenn mich diese Gedanken extrem einholen
ausflüge im Rollstuhl
und merke dass es mir gut tut.
Zu wissen dass ich nicht damit alleine bin hilft mir damit auch sehr.
Benutzeravatar
Humpelstilzchen
Beiträge: 309
Registriert: Mo 6. Dez 2010, 00:38
Wohnort: DE

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 122Beitrag Humpelstilzchen »

Hallole,

okay, verstehe nun, wie der Transmann das meinte. Muss dazu sagen, ich hatte auch ohne OP oder Pretenden vorher auch schon schöne Zeiten erlebt. Aber im Prinzip hat er/sie Recht, nachher ist die Erlösung schon groß.
phil hat geschrieben: Du hast der Frau Müller in Frankfurt gesagt, wie das Leiden wirklich aussieht und dass es nicht um abstraktes Geschwätz geht. Das fand ich wichtig, auch wenn manch es als "unsachlich" empfunden haben. Aber was an BIID ist schon "sachlich", und wenn wir unsere Gefühle nicht äußern, ist das dann ehrlich und echt?
Ich weiß nur noch teilweise, was ich da gesagt habe. Ich finde nur, dass der Ansatz von Müller arg lebensfremd war und ist und gar nicht auf die Betroffenen eingeht.
phil hat geschrieben: Ja, wir haben nur die Wahl zwischen einer seelischen und einer körperlichen Behinderung. Was ist wichtiger, Seele oder Körper?
Wie stark wirkt sich die körperliche Behinderung auf die Seele aus?
Ich denke, man kann Seele und Körper nicht getrennt betrachten, das bildet eine Einheit, den Menschen. Das ganze Paket muss einfach in sich stimmig sein. Klar, mit einer definitiven OP verschiebt sich die Gewichtung etwas, aber es muss stimmig sein, das ist, was zählt. Der ein oder andere kann diese Stimmigkeit vielleicht auch so erreichen, mit Strategien und/oder Therapie, das ist einfach individuell.
Always be yourself. Those who matter won't mind, those who mind, don't matter!
werner_s
Beiträge: 4
Registriert: Mi 29. Dez 2010, 10:43

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 491Beitrag werner_s »

Hallo,

meine Frau bekam bei ihrem Aufenthalt in der psychiatrischen Uni-Klinik eine Kombinationstherapie mit Zyprexa (Neuraleptikum), Anafranil und Mirtazapin (beide Antidepressiva) . Leider haben all diese Medikamente überhaupt nichts bezüglich BIID gebracht. Lediglich ihre suizidale Einengung konnte damit behoben werden. Sie litt aber sehr an den Nebenwirkungen der Medikamente. Heute nimmt sie lediglich ein leichtes Antidepressiva (Cipralex)
Badones

Re: Medikamentöse Behandlung

Beitrag: # 495Beitrag Badones »

Ja das gute alte Cipro kenn ich auch noch; wird fast genau so oft verschrieben wie der deutsche Michl sich Paracetamol in der Apotheke holt! Zum Glück war ich Verteiler und nicht Einnehmer!!!

Halt von Psychopharmaka nur dann was wenn es eine Akutsituation ist, Suizid, Selbstverletzung, Depression etc. aber wenn es darum geht eine unangenehne Lebenssituation erträglicher zu machen finde ich sie fehl am Platz weil man doch besser daran arbeiten sollte die Lebenssituation zu ändern, oder?? Also finde ich zumindest!?!! Ist ja das gleiche mit dem Alkohol viele trinken sich ein unangenehmes Leben schön bis sie Alkoholkrank sind und merken nicht das sie ihr Leben dadurch noch schlimmer gemacht haben, anstatt von anfang an daran gearbeitet zu haben die unangenehme Situation zu verbessern!
Dazu gibt es ein verdammt gutes chinesisches Zitat, nur ich finds nicht - mist *gruschel*räum*werf*such*kram*
Antworten